Verbraucht ein Großteil der Bestandsbauten in Deutschland weniger Energie, als die Prognosen des berechneten Energiebedarfs suggerieren? Das zumindest legt die Studie eines Bauphysikers aus Bielefeld nahe. Höchste Eisenbahn also, dem Zusammenhang nachzugehen, bevor vom Klimapaket losgetretene tausendfache energetische Sanierungen wirkungslos verpuffen
Mehr als 54 Milliarden Euro will die derzeitige Bundesregierung in Investitionen insbesondere zur Verringerung des CO2-Ausstoßes und das sogenannte Klimapaket stecken. Ein stattlicher Teil davon ist für die energetische Sanierung des Gebäudebestands vorgesehen. Die Frage ist nur, ob dieses Geld wirklich gut angelegt ist.
Nicht um hier missverstanden zu werden: Niemand, der bei klarem Verstand ist, bezweifelt den direkten Zusammenhang zwischen den dramatischen Veränderungen des Weltklimas und den seit Beginn der Industrialisierung freigesetzten Abgasen durch Verbrennung. Doch wie bei zahlreichen anderen Einzelaspekten des Klimapakets scheinen die in Richtung einer flächendeckenden energetischen Sanierung von Bestandsgebäuden gehenden Bestrebungen die eigentlichen Zusammenhänge nur ungenügend zu berücksichtigen, bzw. Umstände als gegeben vorauszusetzen, die sich bei näherer Betrachtung als alles andere als gesichert entpuppen.
Kern des Anstoßes
Springender Punkt ist hier der zur Beurteilung der Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden herangezogene Energieausweis, den Immobilienbesitzer seit Inkrafttreten der Energieeinsparverordnung (EnEV) im Februar 2002 für ihre Gebäude zu erstellen verpflichtet sind. Dieser Energieausweis kann jedoch auf zweierlei gänzlich unterschiedliche Weise, nämlich sowohl auf der Grundlage des erfassten Energieverbrauchs (Energieverbrauchsausweis) als auch auf der Grundlage des berechneten Energiebedarfs (Energiebedarfsausweis), erstellt werden.
Nach einer erst jetzt ins Blickfeld der Öffentlichkeit geratenen, jedoch bereits Ende Oktober 2019 vorgelegten Studie mit dem Titel „Energiebedarf versus Energieverbrauch oder Theorie versus Realität“ von Prof. Thomas Ackermann vom Institut für Bauphysik und Baukonstruktion der Fachhochschule Bielefeld, führen jedoch beide Verfahren, auf ein und dasselbe Gebäude angewandt, zu dramatisch voneinander abweichenden Ergebnissen.
Bei seiner im Auftrag des Verbands Haus & Grund erstellten Studie, zu der insgesamt 59 über das gesamte Bundesgebiet verteilte Wohnimmobilien unterschiedlichster Typen herangezogen wurden, deckte er auf, dass mit Hilfe standardisierter Berechnungsparameter ermittelte angebliche Energiebedarfsmengen um bis zu 173 Prozent über dem tatsächlichen Verbrauch lagen. Wie kann das sein?
Gelackmeierte Immobilienbesitzer
Diese Frage hatten sich im Vorfeld auch Verbandsmitarbeiter gestellt und hatten, misstrauisch geworden durch stark variierende Klassifizierungen vergleichbarer Bauten, für je ein Mehr- und ein Zweifamilienhaus von insgesamt zehn verschiedenen Energieberatern Energieausweise erstellen lassen. Die ermittelten Energiekennwerte differierten dabei um bis zu 46 Prozent. Was für die bei Haus & Grund zusammengeschlossenen Immobilienbesitzer durchaus durchschlagende Konsequenzen hat: Schlechte energetische Klassifizierungen reduzieren drastisch den Wert von Wohnungen und Gebäuden.
Die Ergebnisse der Studie des Bielefelder Professors machten in der Folge erst das wahre Ausmaß dieser Diskrepanzen deutlich. Die Klassifizierung der untersuchten Bauten lag nach Bedarfsanalyse um stattliche fünf Klassen unter der auf Grundlage des wahren Verbrauchs ermittelten Einstufung.
Aufs Ganze gesehen kommt Ackermann zu dem Schluss, dass Bestandsgebäude, deren energetische Qualität auf der Basis des Energiebedarfs ermittelt wird, mutmaßlich grundsätzlich als zu schlecht eingestuft würden. Für Eigentümer von Bestandsbauten führe die Einstufung in eine Energieeffizienzklasse aus Bedarfsberechnungen daher zu einem wirtschaftlichen Nachteil.
Methodische Schwächen
Den Vorwurf unzureichender Wissenschaftlichkeit seiner Studie muss Ackermann bei all dem nicht fürchten. Höchst präzise erörtert er hier die methodischen Schwächen der gesetzlich festgeschriebenen Bedarfsrechnung. So bleibe bei der Bedarfsrechnung etwa die Erfassung der Temperaturdifferenz zwischen Innenräumen und Außenbereich unberücksichtigt, die überhaupt erst die Erfassung von Wärmeverlusten durch bestehende Wärmebrücken oder handwerklich unzureichende Isolation ermöglichte. Nicht nur in diesem Zusammenhang sei zudem die Berechnung des Energiebedarfs auf der Basis der Außenlufttemperaturen am Standort der Station des Deutschen Wetterdienstes (DWD) in Potsdam völlig abwegig.
Auch Lage, Orientierung oder Verschattung von Gebäuden bzw. Räumen, die großen Einfluss auf die sich einstellenden Raumtemperaturen hätten, blieben bei der kritisierten Methode unberücksichtigt. Überdies könnte nicht für alle Räume ein und dasselbe Temperaturmittel angesetzt werden, da es etwa in Schlafzimmern bei den angestellten Messungen konstant kälter gewesen sei als im Rest des Wohnbereichs.
Realität und Theorie
Wie wenig die zugrunde gelegten normativen Randbedingungen von einer Durchschnittstemperatur von 19 oder 20 Grad (jeweils nach Rechenansatz gemäß DIN V 4108-6 bzw. DIN V 18599-10) mit der Realität zu tun haben, belege etwa der aus allen betrachteten Gebäuden in der Heizzeit gewonnene Durchschnitt der Raumtemperatur von 21,3 Grad, der trotz eines erheblich geringeren Realverbrauchs erreicht worden sei. Zur Illustrierung der Untauglichkeit der Energiebedarfsrechnung stellte Ackermann am Ende seiner Studie den nach den beiden Rechenmodellen ermittelten Energiebedarf von insgesamt sieben Gebäuden dem eigentlichen Verbrauch gegenüber. Beim Vergleich der Werte aus den letzten drei Jahren lag der anhand der Standwerte prognostizierte Verbrauch im geringsten Fall um den Faktor 2,76 höher, in einem Fall wurde sogar ein mehr als 13-facher Wert ermittelt!
Erschreckendes Fazit
Ackermann schließt seine Studie insofern mit einer nach dargelegter Sachlage naheliegenden Feststellung: Die für die Heizung und Warmwasserbereitung in Bestandsgebäuden aufgewandte reale Energiemenge, die am Ende vor allem durch den CO2-Ausstoß zu einer Umweltbelastung führt, dürfte „geringer sein, als es die Datenlage zeigt. Insofern muss davon ausgegangen werden, dass Maßnahmen von gesetzgeberischer Seite, die zu einer Verminderung des Schadstoffausstoßes im Gebäudebestand führen sollen, wirkungslos bleiben, da der Energieverbrauch bei Altbauten bereits geringer ist, als es das Bild aus Energiebedarfsberechnungen erwarten lässt.“